Es braucht nicht viel in diesem Land

Veröffentlicht am 15. Mai 2014 von Roman
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Ein Aufreger ist hierzulande leicht zu landen. Man nehme einen Bart, einen Pimmel oder eine Brustwarze (das funktioniert in den USA noch viiiiiieeeeel besser). Wie die Ereignisse der letzen Woche deutlich zeigen. Nach dem 'Wurstskandal' und der damit einhergehenden Illusion einer aufgeschlosseneren Welt (*ha* - auch Spindelegger gratuliert der Conchita Wurst - freilich lieber dem Herrn Künstler hinter der Kunstfigur, damit man sich die Er?/Sie?/Es?-Diskussion erspart ...) wird unsere Toleranz gleich aufs Neue auf die Probe gestellt. Da plakatiert der (böse) LifeBall doch tatsächlich ein paar Nackerte und es funktioniert schon wieder. Der Werberat wird herbeigerufen (die sind aber für Kunst & Kultur sowie für NonProfit-Organisationen nicht zuständig - für politische Werbung übrigens - leider - auch nicht!) und es rasselt Presseberichte und Beschwerden. Wie diese hier:

Wir, als Familie mit zwei Kindern sind unendlich entsetzt über das werbende Plakat dafür! Es verletzt zutiefst unsere religiösen Gefühle und ist außerdem ein Ärgernis durch die Nacktdarstellung dieses Zwitterwesens. Auch wenn dieses Plakat von einem Künstler gemacht wurde – dennoch ist es für uns ein echtes Ärgernis. Wie erklären wir das unseren Kindern? Das schränkt uns in unserer Erziehungsfreiheit enorm ein, mitfinanziert von der öffentlichen Hand.

Es ist schon unglaublich, wie man das eigene Unvermögen die Welt seinen Kindern zu erklären leicht hinter solchen Beschwerden verstecken kann. Die Antwort darauf ist aber auch wunderbar - und die will ich euch nicht vorenthalten, weil sie auch ganz und gar meiner Ansicht entspricht (Danke an den Verfasser!):

Sehr geehrte Familie … !
Zu allererst respektiere ich Ihre religiösen Gefühle. Ich bin Atheist und halte strikt auseinander, was der persönliche Glaube eines Menschen ist und welche Stellung und Aufgabe er in der Gesellschaft hat. Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Erst die Trennung dieser beiden Bereiche hat Zivilisation ermöglicht. Nur ein starkes Rechtsgebilde mit gleicher Distanz zu ALLEN Religionen garantiert, dass jeder seine Religion ausüben kann. Ich bin Demokrat und Staatsbürger einer Republik (Sache des Volkes) mit aller Kraft.

Mein Zugang ist der: es muss mir nicht gefallen, aber ich bin strikt dafür, dass so etwas gezeigt werden darf. Mir gefallen auch keine geschundenen, zermarterten Körper, die ans Kreuz genagelt wurden. Die Abbildung was Menschen einander antun können ist Kindern auch nicht leicht vermittelbar - und trotzdem hängen Millionen von Kruzifixen herum.

Was nun den Lifeball und die Abbildungen betrifft:

1.) Zwitter sagt man nicht mehr. Es ist diskriminierend. Entweder Hermaphrodit oder intersexueller Mensch

Ich glaube nicht, dass für Menschen mit dieser geschlechtlichen Ausprägung das Leben in allen Phasen und immer lustig ist und war. Sie haben Kinder und ich habe auch 2 Töchter – und ich bin froh und danke jeden Tag dafür, dass sie kerngesund sind. Umso mehr habe ich Respekt für Menschen, die mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind. Bedenken Sie das bitte auch, wenn Sie ihre Zeilen nochmals lesen. Ich kann das meinen Kindern erklären. Auch für den fall, dass die Intersexualität eine frei gewählte ist, glaube ich nicht, dass dieser Schritt aus einer Laune oder aus Triebhaftigkeit heraus geschieht, sondern aus Verzweiflung in dem falschen Körper zu stecken. Warum auch immer das so ist – wir haben nicht das Recht, darüber zu urteilen. Seien wir froh, dass wir diese Sorge nicht haben.

2.) Warum wir den Lifeball unterstützen?

Die Erlöse des Lifeballs gehen in die Unterstützung von HIV Bekämpfungsprogrammen. Unter welchem Elend Menschen leiden müssen, die in Afrika oder anderen armen Ländern HIV krank sind, können wir uns gar nicht vorstellen. Kindern denen die Eltern wie die Fliegen wegsterben, und und und. Wir unterstützen auch das Kinderdorf Pöttsching und eine Wohngemeinschaft für misshandelte Kinder mit namhaften Beträgen. Und auch den Lifeball, weil's auch da zu helfen gilt.

3.) Die Nacktheit

Gehen Sie durch die großen Museen der Welt: Kunsthistorisches Museum, Louvre, Prado, … und Sie werden sehen, dass es da nur so wimmelt von Abbildungen nackter Körper. Das ist Kunst – und auch die Abbildungen des Lifeball Plakats sind Kunst. Der nackte Körper – ob männlich oder weiblich – war immer ein Objekt künstlerischer Abbildung. Warum soll das jetzt nicht mehr gelten?

4.) Gott

Wenn es Gott gibt und er uns liebt, dann liebt er uns auch so, wie wir sind. Und wir sind nicht als bekleidete Menschen entstanden, sondern nackt. Wenn wir mit Nacktheit nicht umgehen können, dann liegt das im Auge des Betrachters – und damit ist es auch seine Sache.

So: ich hoffe Sie sind mit meiner Antwort zufrieden. Freuen Sie sich, dass Sie in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit leben – in der auch die Ausübung Ihrer Religion gesichert ist. In Ländern in denen die Religion den Ton angibt, gibt es diese Freiheit nicht. Die Freiheit, die Sie anderen gewähren schützt Sie selbst davor, selbst mit Unfreiheit konfrontiert zu werden.

Das alles können Sie Ihren Kindern erklären, damit Sie als Demokraten aufwachsen, die ihre Religion in Freiheit ausüben können.


Eine großartige Antwort. Vielen herzlichen Dank dafür! Aber leider auch ein Zeichen, wie wenig weit es mit der gepriesenen Toleranz in unserem Land steht. Und wir leben hier im Schlaraffenland in punkto Offenheit - um nicht zu sagen in einem Ghetto der 'Toleranz'.

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